Die Zehn-Worte in jüdischer Auslegung.

Josef Kirsch

Bevor wir uns den Texten der 10 Worte zuwenden – sie sind im AT zweimal überliefert: 2.Mose 20, 1-17 und 5. Mose 5, 6-21 – möchte ich einige Worte zur spezifisch rabbinischen Auslegung – im Unterschied zur christlichen Theologie – und zur Besonderheit des hebräischen Zeitverständnisses im Unterschied zu dem unsrigen bzw. indo-europäischen sagen. Die Tatsache, dass der Dekalog in der Tora in Doppelüberlieferung vorliegt, (1. als Gabe an das Volk in Ex. 20 am Berg Sinai, 2. als Gabe an das Volk in Dt.5 am Berg Horeb, wobei die Überlieferung beider Wortreihen leicht variiert) stellt in der rabbinischen Überlieferung kein Problem dar, da gesagt wird, beide Berge seien identisch. Letztlich muss man sagen, dass man dieses nicht weiß, da die Position beider Berge bisher nicht wirklich geklärt ist. Im Buch Exodus wird von Mose in der 3. Person gesprochen, im Buch Deuteronomium spricht Mose in der 1. Person.

Die jüdische Auslegungstradition

Warum vermeide ich den Begriff: 10 Gebote und sage stattdessen 10 Worte? Ganz einfach: das AT, hebräisch der Tanach, speziell in unserem Fall die Tora (die fünf Bücher Mose) spricht von 10 Worten, nicht von 10 Geboten. Nach der Tradition wurden die 10 Worte dem Volk Israel über die Person des Mose am Sinai als Grundlage des Bundes gegeben, den Gott mit seinem Volk geschlossen hat.(so das Buch Exodus, 2.Mose 20) bzw. am Berg Horeb im Lande Midian (so das Buch Deuteronomium , 5.Mose 5). Ob diese Berge identisch sind – so das Judentum – oder ob es zwei Überlieferungen sind, ist umstritten. Die Berge sind sowieso nicht zu lokalisieren. Auch die beiden Fassungen der 10 Worte sind nicht identisch, weitgehend schon, aber nicht genau. Dieser Bundesschluss am Sinai wird von den jüdischen Theologen als historisches Faktum angesehen. Die christliche Theologie, die seit 200 Jahren historisch-kritisch arbeitet, sieht dieses anders. Die 10 Worte waren aus literarkritischen Gründen ursprünglich keine Einheit, sondern sind in späterer Zeit (nachexilisch, also 6. Jh. vor Christus) zusammengestellt worden und als Dokument des Bundesschlusses in den großen Textzusammenhang eingebaut worden. Als literarische Einheit können sie nicht gesehen werden, da die formalen Unterschiede zu groß sind: z.B. die apodiktischen Formulierungen der zweiten Tafel und die sehr ausführlich beschreibenden Formulierungen der ersten Tafel.  Die christliche Theologie fragt historisch-kritisch, also nach Verfassern, nach Quellen, nach zeitl. Datierung, nach literarischen Gestaltungsformen, nach damaligem Zeitverständnis, nach soziologischen Zusammenhängen, nach textlicher Überlieferung usw. Die jüdische Auslegung ist ein über Jahrtausende hinweggehender Auslegungsprozess, der von einem vierfachen Schriftsinn ausgeht, dem Pardes. Von diesem alt-persischen Wort leitet sich unser indo-europäisches Wort Paradies ab und meint im Hebr. Park oder Garten (den Zitrushain). Es wird aber verstanden als Akronym aus vier Buchstaben: P, R, D, S .Die Vokalschreibung gibt es erst als Punktsystem erst seit dem 8. Jh. nach Christus. Auch heute werden im Hebräischen nur unbekannte Wörter (z.B. Namen) mit Vokalsystem geschrieben.   P steht für paschut (einfach) und meint die wörtliche Bedeutung eines Textes, R steht für remes (der Wink) und meint die allegorische Anspielung; D steht für drascha (die Predigt) und meint die in einer Predigt zu findende Anwendung (homiletische Frage), sod (das Geheimnis) steht für die mystische Deutung. Um dieses einmal konkret an einem Text aufzuweisen, wähle ich eine Ehebruchsbestimmung aus 3. Mose 20, 10, in der beide (Mann und Frau) zum Tode verurteilt werden sollen. Das ist Pschat. Remes könnte eine Anspielung auf die Abwendung von Gott beinhalten. Drasch (die homiletische Verarbeitung) würde evtl. über die verschiedenen Formen des menschlichen Zusammenlebens nachdenken und Sod über die unio mystica zwischen Gott und dem Menschen. Sie merken die rabbinische Schriftauslegung eröffnet ein riesiges Feld des Streites, aber auch eine unendliche Fülle der Annäherung an die Texte. Ein jüdischer Schriftkommentar sieht auf den ersten Blick schon anders aus als ein christlich-theologischer. Bei einem jüdischen Kommentar werden die Aussagen berühmter Rabbiner zu einem Text zitiert, auch wenn sie Jahrtausende alt sind. Die christlich-theologische Schriftauslegung zitiert i.d.R. keine Literatur, die 50 Jahre alt ist. Die jüdische Schriftauslegung spiegelt eine fortlaufende Auslegungsdiskussion, die christliche stellt die aktuelle wissenschaftliche Fragestellung dar bzw. treibt diese voran.

Innerhalb der Gesetze bzw. der Worte gibt es natürlich eine Hierarchie. Jesus selbst hat gelehrt, dass keines der Gesetze der Tora aufgelöst werden wird, kein Buchstabe, kein Tüpfelchen (Mt. 5,17ff). Zugleich hat er in den Streitgesprächen mit den Pharisäern und Schriftgelehrten auf die Frage nach dem höchsten Gebot Folgendes geantwortet: Das höchste Gebot ist: Höre, Israel, der Herr ist unser Gott, der Herr alleine und du sollst den Herr, deinen Gott lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit aller deiner Kraft (5. Mose 6, 4-5) Und das andere ist dieses: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst (3. Mose,19,18). Es ist kein anderes Gebot größer als dieses. Das gilt natürlich auch für uns. Dennoch hat das Judentum eine andere Grundhaltung zum Gesetz als wir. Ein Beispiel: Es gibt ein Speisegesetz: Du sollst das Böcklein nicht kochen in der Milch seiner Mutter (2. Mose 34, 26b; 5.Mose 14, 21b). In der christlichen Überlieferung spielt es keine Rolle. Nach Paulus ist in Christus das Gesetz erfüllt. Die moderne alttestamentliche Wissenschaft hat gezeigt, dass dieses Gesetz entstanden ist, um einen heidnischen Hirtenzauber abzuwehren. Den Hirtenzauber gibt es nicht mehr. Aber da kein Gesetz erledigt ist, muss die moderne rabbinische Diskussion das Gesetz aktualisieren, wobei es verschiedene Stufen des Koscher-Zertifikates  gibt.  Und das sieht so aus: Milchprodukte und Fleischprodukte dürfen niemals gemeinsam konsumiert werden. Ja, in strenger Auslegung muss jeder orthodoxe Haushalt über zweifaches Geschirr verfügen: eines für Fleischprodukte, eines für Milchprodukte. Diese scharfe Trennung von Milch und Fleisch, weitergehend das absolute Verbot von Blutgenuss und Schweinefleisch wird selbst im Gästehaus eines atheistischen Kibbuz wie En Gedi am Toten Meer streng befolgt. Da man sich beim Frühstück in den Hotels in Israel allgemein für Milchprodukte (Käse) entschieden hat, gibt es keine Wurst o.ä. Nebenbei gesagt sollten wir uns nicht über die strengen jüdischen Speisevorschriften erheben. Nach der japanischen Küche gilt die israelische als die zweitgesündeste der Welt. Japan hat die höchste Lebenserwartung der Welt und auch die israelische Lebenserwartung liegt höher als unsere. Also die Grundhaltung der rabbinischen Auslegung ist eine andere als die der christlichen, aber es gibt nicht den geringsten Grund für einen christlichen Hochmut. 

Spezifika des hebräischen Zeitverständnisses.

Jeder, der sich der Auslegung des AT bzw. des Tanach, zuwendet, muss die hebräische Sprache lernen. Jüdische Kinder lernen hebräisch auch in Deutschland schon im Rahmen des synagogalen Unterrichtes. Theologiestudenten lernen es i.d.R. an der Universität. Wir wollen jetzt heute Abend keinen Kleinkurs in hebräischer Sprache durchführen, aber auf einige Besonderheiten bzw. Unterschiede zu unseren indo-europäischen Sprachen in der Konjugation der Verben muss ich hinweisen, damit die grundlegende Fragestellung überhaupt klar wird. Unsere deutsche Sprache kennt nur das Aktiv und das Passiv, darin aber eine Fülle von Zeitmöglichkeiten: das Plusquamperfekt als Vorvergangenheit, das Perfekt als abgeschlossene Vergangenheit, das Imperfekt als abgeschlossene oder auch unabgeschlossene Vergangenheit, das Präsens als Gegenwart, das Futur I als Zukunft und das Futur II als in der Zukunft abgeschlossene Handlung, dieses alles im Realis des Indikativs oder in der Möglichkeitsform bzw. dem Irrealis des Konjunktivs, dazu kennen wir die Imperative in bejahter oder verneinter Form. Das ist ein bisschen kompliziert, aber relativ klar. Im Hebräischen gibt es nicht nur die beiden Stämme Aktiv und Passiv, sondern sieben: unser normales Aktiv und Passiv, aber dazu ein intensives Aktiv und Passiv, ein kausatives Aktiv und Passiv und ein Reflexiv, wobei diese Begriffe nur hilfsweise andeuten können, worum es geht. Z.B. das Wort „sterben“ heißt „muth“, im kausativen Stamm (Hiphil) heißt es:“sterben lassen „ oder „töten“. Als Zeitformen aber gibt es lediglich die abgeschlossene Handlung und die unabgeschlossene Handlung. Und jedes Mal muss überlegt werden, ob eine Form als Vergangenheit, als Gegenwart oder als Zukunft übersetzt werden muss. Ein Beispiel: Wenn Gott etwas verheißt, dann steht es in der Form der abgeschlossenen Handlung. Was Gott sagt, gilt als bereits eingetreten (perfectum propheticum). Die deutsche Übersetzung muss aber im Futur erfolgen. Das Hebräische kennt wie das Deutsche auch Imperative in bejahter oder verneinter Form. Das ist relativ einfach. Es kennt aber im Gegensatz zum Deutschen mehrere Formen der Verneinung: vor allem lo und al. Al ist die strikte Verneinung als Befehl: Du darfst nicht. Lo ist die einfache Negation: Das Haus ist nicht grün, sondern weiß. Im Zusammenhang der unabgeschlossenen Handlungen gibt es Mehrdeutigkeiten. Jichtov heißt: er wird schreiben oder auch er soll schreiben. Al jichtov (harte Verneinung Jussiv)) er darf nicht schreiben, schreib nicht; lo jichtov kann bedeuten: er schreibt gerade nicht oder er wird nicht schreiben oder er soll nicht schreiben. 

Dieses ist das Auslegungsproblem der 10 Gebote oder der 10 Worte: die unabgeschlossene Handlungsform mit lo. Das 6. Wort – wie ist lo tirzach angemessen zu übersetzen? Du mordest nicht oder du sollst nicht morden oder du wirst nicht morden. Das Verb razach meint nicht töten, sondern morden.  Ich denke: Du wirst nicht morden.

Und jetzt wollen wir uns die 10 Worte im einzelnen anschauen, und zwar in rabbinischer Auslegung. Nach der Überlieferung wurden die 10 Worte Mose auf zwei Steintafeln von Gott übergeben. Nach jüdischer Überlieferung stehen auf jeder Tafel fünf Worte: Die erste Tafel beschreibt die Worte, die das Verhältnis zwischen Gott und den Menschen regelt (einschließlich das Wort von der Würde der Eltern, das in der christlichen Überlieferung zur zweiten Tafel gehört). Die zweite Tafel beschreibt die Regelung des Verhältnisses der Menschen untereinander. Letztlich ist das Schicksal der beiden Tafeln unbekannt. Im zweiten Tempel , nach dem Exil (Ende 536 v. Christus) waren sie nicht mehr vorhanden. Laut einer Legende soll König Josia sie vor dem feindlichen Ansturm versteckt habe, einer anderen Überlieferung folgend soll der Prophet Jeremia sie auf dem Berg Nebo verborgen haben.  In vielen Synagogen findet sich eine Abbildung der zwei Tafeln an der Spitze der Lade, die die Thorarollen enthält. Dreimal im Jahr werden im Gottesdienst die 10 Worte verlesen, vor allem am Fest Schawuot, das unserem Pfingstfest entspricht und im Judentum das Fest der Gabe der Tora am Sinai ist .Ich beziehe mich bei der Übersetzung immer auf den hebräischen Text und den griechischen Text der Septuaginta. Die Septuaginta ist ein gewaltiges Übersetzungswerk der hebräischen Bibel ins Griechische ab 250 v.Chr., weil die hellenistischen jüdischen Gemeinden des Hebräischen nicht mehr mächtig waren und eine griechische Übersetzung benötigten. Das Wort Septuaginta (70) rührt von der Legende her, dass 72 Gelehrte in 72 Tagen unabhängig voneinander den Tanach, also das AT übersetzten und bei der Überprüfung stellte sich die völlige Identität der Übersetzungen heraus. Überraschend ist, dass auch die Septuaginta die 10 Worte nicht als Gebote oder Verbote übersetzt, sondern im Futur: Du wirst nicht. Die Rabbinen sagen: Am Sinai nimmt Gott sein Volk in den Arm und sagt ihm: Wenn du zu mir gehören willst, dann weißt du, dass du bestimmte Dinge nicht tun wirst. Dieser Gedanke, der eine Grundsituation im Verhältnis zwischen Gott und Mensch beschreibt,  wird durch die futurische Übersetzung besser zur Sprache gebracht, als durch die gesetzesförmige Übersetzung.

Das 1. Wort

Ich bin der Ewige, dein Gott, der ich dich aus dem Lande Ägypten geführt habe, aus dem Hause der Sklaven. (identisch in allen Fassungen Ex.20,2; Dt. 5,6)). Dieses Wort ist die Präambel vor allen anderen. Aber mehr als das. Gott ist da als derjenige, der in die Freiheit führt und der dem Volk seine Existenz gab. Zugleich richtet sich jedes Wort an jeden einzelnen. Die Anrede erfolgt in der 2. Person Singular. Der Ewige ist hier die Übersetzung für den Gottesnamen, der nicht ausgesprochen werden darf. Er umfasst vier Konsonanten (jhwh). Das Volk benötigt Gott, um ein Volk in seiner Geschichte zu sein. Aber Gott benötigt auch das Volk, um der Name zu sein, der nicht ausgesprochen werden darf. Wenn Ihr in meinem Bund bleibt, bin ich der Euch zugewandte Namensträger. Wenn Ihr das nicht tut, bin ich der Gott, der für strenge Gerechtigkeit sorgt.

Das 2. Wort

Für dich wird kein anderer Gott da sein mir gegenüber. Du wirst dir kein Götzenbild machen, noch jederlei Gestalt von dem, was oben im Himmel und unten auf der Erde oder im Wasser unter der Erde ist. Du wirst dich nicht vor ihnen verbeugen und ihnen nicht gottesdienstlich dienen. Denn ich, der Ewige, dein Gott bin ein eifernder Gott, der heimsucht die Schuld der Väter an den Kindern, Enkeln und Urenkeln, an denen die mich hassen. Und ich übe Barmherzigkeit bis ins tausendste Geschlecht derer, die mich lieben und meine Gebote bewahren. (identisch in beiden Fassungen Ex. 20,3-6; Dt. 5, 7-10).

Nach der Verfehlung des Volkes, sich ein goldenes Kalb zu gießen als Götzenbild während der langen Abwesenheit des Mose, werden die 10 Worte zum zweiten Mal auf zwei Tafeln geschrieben. Im Bild gesprochen nimmt Gott sein Volk in den Arm und sagt ihm: Wenn Du zu mir gehören willst, dann weißt Du eigentlich alles; z.B. dass unter den vielen Göttern der Welt kein Gott außer mir für Dich da sein wird. Es wird die bildhafte Kunst nicht untersagt, anders im Islam oder auch in manchen christlichen Kirchen, aber es gibt einfach keine Verehrung Gottes unter einem Bild, unter keinen Umständen. Das ist Konsens zwischen Gott und Israel. Es wird nicht die Kunst untersagt, aber der gottesdienstliche Missbrauch der Kunst. Gott ist furchterregend, aber seine Liebe umfasst und umhüllt das Furchterregende. Eine Familie bestand aus etwa drei Generationen, der Zorn Gottes bleibt darauf beschränkt, seine Barmherzigkeit aber geht bis  ins tausendste Geschlecht, ist also unbeschränkt. 

Das 3. Wort

Nicht wirst du den Namen des Herrn, deines Gottes bei einer Unwahrheit aussprechen (um diese zu bekräftigen), denn nicht wird der Herr den schuldlos sein lassen, der seinen Namen zur Unwahrheit ausspricht. (identisch in beiden Fassungen. Ex. 20, 7; Dtn. 5,11).

Es geht um die Abwehr des Missbrauchs des Namens Gottes. Abbild und Name sind Ausdruck der Identität Gottes, die geheiligt wird (vgl. die 1. Vaterunser-Bitte: geheiligt werde dein Name)). Das Gebot zielt wahrscheinlich auf das Ablegen falscher Eide. Und von dorther zielt es auf das Faktum, dass der Name Gottes niemals ausgesprochen wird, sondern durch ein anderes Wort (Herr, Tetragramm, der Name ) ersetzt wird. Der Name Gottes soll vor jeder Form der Aushöhlung bewahrt werden. Diese Scheu ging so weit, dass kein Papier, auf dem der Name Gottes geschrieben war, weggeworfen werden durfte, sondern an einem besonderen Ort verborgen wurde (Genisa von ganas verbergen). In dieser Strenge ist das Christentum dem Judentum nicht gefolgt.

Das 4. Wort

Gedenke des Ruhetages, ihn zu heiligen. Sechs Tage wirst du arbeiten und alle deine Arbeit verrichten. Der siebte Tag aber ist ein Ruhetag für den Herrn, deinen Gott, du wirst nicht verrichten jegliche Arbeit, weder dein Sohn, noch deine Tochter, dein Sklave, noch deine Sklavin, auch nicht dein Vieh, auch nicht dein Fremder, der in deinen Toren ist, denn sechs Tage lang hat der Herr den Himmel und die Erde gemacht und das Meer und alles, was darin ist, und er ruhte am siebten Tage. Deswegen segnete der Herr den Tag der Ruhe und heiligte ihn (Ex. 20, 8-11)

Im Deuteronomium weicht der Text ab (Dt.5,12-15): Bewahre den Ruhetag in seiner Heiligkeit, wie dir der Herr, dein Gott befohlen hat. Sechs Tage wirst du arbeiten und all dein Werk verrichten. Der siebte Tag aber ist dem Herren, deinem Gott ein Ruhetag. Nicht wirst du jegliches Werk verrichten, du nicht, auch dein Sohn und dein Tochter nicht, auch nicht dein Sklave und deine Sklavin, auch nicht dein Rind und dein Esel und jegliches Vieh, auch nicht der Fremde, der in deinen Toren ist, damit dein Sklave und deine Sklavin ruhe wie du. Und du erinnerst dich, dass du Sklave gewesen bist in Ägypten  und herausgeführt hat dich von dort der Herr, dein Gott mit starker Hand und ausgestrecktem Arm. Darum gebietet dir der Herr, dein Gott, den Ruhetag zu halten. 

Der Unterschied in den Eingangsverben (erinnere dich und bewahre): „Erinnere dich“ bezieht sich wohl mehr auf die positiven Handlungen: Kerzenanzünden etc, während das „Bewahre“ wohl stärker auf das Arbeitsverbot zielt. Die kritische alttestamentliche Wissenschaft geht von unterschiedlichen Traditionen aus, während die rabbinische Auslegung an der gemeinsamen Verkündigung beider Texte mit unterschiedlichen Akzenten festhält. Erinnere dich an den Ruhetag, wenn er kommt und bewahre ihn, wenn er zu Ende geht. „Heiligung“ schließt die Verpflichtung ein, den Sabbat mit einer besonderen Segnung zu heiligen (Kiddusch). Woher der Sabbat kommt ist umstritten. Unter allen jüdischen Bräuchen hat er eine Sonderstellung, weil nur er in den Dekalog aufgenommen wurde.  Er stellt eine geniale Verbindung dar zwischen sozialer und kultischer Gesetzgebung. Im Dtn. ist der Sabbat sozial begründet, in Ex. ist er schöpfungsmäßig begründet (vgl. 1. Mose 2, 2f). Der Sabbat findet alle 7 Tage statt, unabhängig von jedem Festkalender; er ist auch kein herrschaftlicher Akt, wie sonst Festtage, sondern göttlichen Ursprungs, gerade in seiner einerseits sozialen, andererseits schöpfungsmäßigen Verankerung. Jedes der Schöpfungswerke hat einen Partner, der Sabbat hat Gott und Israel als Partner. Zugleich steht ein Menschenleben höher als der Sabbat: Der Sabbat muss gebrochen werden, wenn ein Menschenleben in Gefahr ist.  Ebenso gilt es im modernen Israel auch, die Verteidigungsbereitschaft auch am Sabbat aufrecht zu halten. Der Sabbat hatte im Exil, in der Zerstreuung, in der Shoa identitätsstiftende Bedeutung. Der besondere Schutz des Fremden, gerade mit dem Hinweis, dass Israel selbst Fremdling gewesen ist, ist ein besonders aktueller Passus im Sabbatgebot. Die einleitenden Verben (erinnern, bewahren) können imperativisch übersetzt werden: aber es sind grammatikalisch eigentlich keine Imperative, sondern ein sog. Inifinitivus absolutus, der auch substantivisch übersetzt werden kann; also: Erinnerung an den Ruhetag… bzw. Bewahrung des Ruhetages…Die imperativische Übersetzung ist aber nicht falsch.

Das 5. Wort

Auch das 5. Wort hat eine – wenn auch – leichte Abweichung in beiden Überlieferungen: Ehre sei deinem Vater und deiner Mutter (ganz wörtl: deinem Vater und deiner Mutter möge ihr Gewicht, ihre Bedeutung belassen bleiben; auch hier handelt es sich nicht – s. 4. Wort – um einen Imperativ, sondern um einen infinitivus absolutus, der substantivisch übersetzt werden kann), damit deine Tage lang sein werden auf dem Erdreich, das der Herr, dein Gott dir gibt. Im Dt. findet sich eine leichte Abweichung (5,16): Ehre sei deinem Vater und deiner Mutter, wie der Herr, dein Gott dir befohlen hat, damit deine Tage lang seien und es dir gut ergehe auf dem Erdreich, das der Herr, dein Gott dir gibt. 

Als erstes muss festgestellt werden, dass das 5. Wort nicht ein Erziehungswort für Kinder ist, sondern sich an Erwachsene richtet. In der jüdischen Tradition ist das 5. Wort das letzte der ersten Tafel, auf welcher das Verhältnis zwischen Gott und Mensch beschrieben wird. Auf der zweiten Tafel geht es um das Verhältnis der Menschen untereinander: Dass es beim Elternwort um das Verhältnis zwischen Gott und Mensch geht, hat in der Tatsache seinen Grund, dass der Mensch niemals stärker am Schöpfungshandeln Gottes teil hat als in der Zeugung, Geburt und Ernährung von Kindern. Das Verb (dein Gott dir gibt) ist ein Partizip, d.h. Gott ist dabei, das Land dem Volk zu geben. Der Satz (und es dir gut ergehe) fehlt im Buch Exodus. „Wahrscheinlich meint er  – genau wie die Verheißung eines langen Lebens- das Weitergehen des Generationenvertrages im Schöpfungshandeln Gottes. D.h., wenn du den Eltern ihre Würde belässt, dann wird Gott auch an dir schöpfungsfreundlich handeln, also dich segnen(langes Leben und Wohlergehen).Nach dem Midrasch- das ist ein Teil des Talmud und die mündliche Überlieferung der Tora – gibt es drei Partner bei der Erschaffung eines Menschen: Gott, einen Vater und eine Mutter. Wer Vater und Mutter ehrt, wird auch von seinen Kindern geehrt werden. Das Wort schließt auch die Deutung ein, dass die Gabe des hl. Landes an das die Eltern ehrende Verhalten gebunden ist. Das Land wird die Verunehrung der Eltern nicht dulden. Vater und Mutter sind hier völlig gleichrangig gesehen. Das vierte und fünfte Wort begründen die beiden bedeutsamsten Institutionen des jüdischen Lebens: Ehe und Familie

Das 6. Wort

Du wirst nicht morden. Unsere Übersetzung töten ist zu schwach. Die 10 Worte dulden keine Ausnahmebestimmungen. Natürlich ist es manchmal unvermeidlich zu töten, im Kriegsfall, in der Notwehr und damals in Israel auch im Vollzug der Todesstrafe. Das hebräische Verb razach (morden) meint eine Tötung aus Hass oder Böswilligkeit, die damals evtl. auch die Blutrache nach sich zog. Wer zum Bund Gottes gehören will, weiß, dass er niemals morden wird. (in beiden Versionen identisch)

Das 7. Wort

Du wirst nicht ehebrechen. Das Ehebruchswort richtet sich an Mann und Frau. Beide werden hingerichtet, wenn sie des Ehebruchs schuldig sind. Beim Mann bezieht sich der Ehebruch auf den Geschlechtsverkehr mit einer verheirateten bzw. verlobten Frau. Er bricht also die Ehe eines anderen. Bei der Frau bezieht sich der Ehebruch auf den Geschlechtsverkehr mit einem anderen Mann, sie bricht also die eigene Ehe. Hier ist also eine Mann-Frau-Asymmetrie festzustellen. In biblischer Zeit war dem Mann sogar die Vielehe gestattet. Aber in alledem galt die Familie als Grundlage der Gesellschaftsordnung, die nicht zerbrochen werden durfte, bzw. deren Missachtung mit schweren Sanktionen versehen wurde. Das hat natürlich auch mit der Sozialstruktur einer archaischen Gesellschaft zu tun. Es gab kein Versicherungswesen. Fast alle Sozialregelungen hingen am Funktionieren des Familienverbandes. Hier ist in den 10 Worten vielleicht die gravierendste Differenz zur modernen Zeit. (keine Differenz der beiden Versionen)

Das 8. Wort

Du wirst nicht stehlen. Dieses Wort bezieht sich auf den Menschenraub und auf den Raub von Eigentum. Die rabbinische Auslegung bezieht sich dabei auf 3. Mose 19,11. Es war nicht möglich, gegen den Willen eines Eigentümers Land zu enteignen (vgl. die Geschichte von Naboths Weinberg, 1. Kön. 21). Das Landeigentum war zum Erhalt der Sozialstruktur völlig unantastbar. Eine Ausnahme bildete das käuflich erworbene Land, das im 50. Jahr (sieben Sabbatjahre) an den ursprünglichen Eigentümer zurückfiel. Wahrscheinlich ist diese Regelung nach dem Exil (536 v. Chr.) nicht mehr angewandt worden. Die ursprüngliche Idee war, dass Grund und Boden letztlich immer Eigentum des Stammes oder Clans bleiben musste. Ganz fremd ist dieser Gedanke uns nicht, wenn wir sehen, dass Kirchengemeinden ihren Grund und Boden auch nicht ohne weiteres verkaufen können. Es muss Ersatzland gestellt werden. Vgl dazu die enorme Schwierigkeit Abrahams, nach dem Tode Saras ein Erbbegräbnisstätte in Mamre (hetitisch) zu kaufen, was ihm schließlich nur durch einen absurd hohen Preis gelingt (1. Mose 23).

Das 9. Wort

Du wirst gegen deinen Nächsten nicht als Zeuge einer Lüge aussagen (Ex. 20, 13).  Du wirst gegen deinen Nächsten nicht als Zeuge einer Nichtigkeit aussagen (Dt. 5,17).

Dieses Wort bezieht sich natürlich in erster Linie auf ein Gerichtsverfahren, das in Israel immer höchste Würde genoss. Aber es bezieht sich auch auf den Charakter, denn es steht hier nicht das Zeugnis, sondern die Person des Zeugen im Mittelpunkt. Die Lüge (fake news) zerstört das Sozialgefüge. 

Das 10. Wort

Du wirst nicht begehren das Haus deines Nächsten. Du wirst nicht begehren die Frau deines Nächsten, auch nicht seinen Sklaven oder seine Sklavin, auch nicht sein Rind oder seinen Esel, noch alles, was deinem Nächsten gehört (Ex.20,14).  Du wirst nicht begehren die Frau deines Nächsten, dich wird nicht verlangen nach dem Haus deines Nächsten, seinem Feld, seinem Sklaven, seiner Sklavin, seinem Rind und seinem Esel, noch allem, was deinem Nächsten gehört. (Dt. 5, 18).

Im Dtn. wird die Frau als eigene Person vor dem Haus erwähnt; in Exodus ist sie Bestandteil des Haushaltes. Auch hier wird deutlich, dass das Dtn. gegenüber dem Ex. ein höheres Sozialinteresse vertritt.  Die Rabbinen vertreten die Auffassung, dass die Verurteilung des Hausgelüstes in einer nomadischen oder halbnomadischen Gesellschaft der Abwehr der Sesshaftigkeit dienen soll. Das 10. Wort ist in der rabbinischen Auslegung auch etwas entschärft worden insofern, als nicht das Begehren an sich als strafwürdig angesehen wurde, gegen das kein Mensch gefeit ist, sondern erst das Umsetzen des Begehrens in die Tat. 

Die 10 Worte regeln also das Alltagsleben. Sie zielen auf den Erhalt des Sozialgefüges im Angesicht Gottes. Wir werden sorgfältig mit den Menschen umgehen, die uns gegenübertreten. Letztlich geht es in allem um die Integrität der eigenen Person. Die Offenbarung an den Menschen wurde so zu einer Offenbarung aus dem Menschen (Samson Raphael Hirsch).  Ob wir Gott wirklich lieben zeigt sich an unserer Liebe zu den anderen (Rabbi Lewi Jitzchaq). 


Literatur: W. Gunther Plaut, die Tora in jüdischer Auslegung Bd. 2 u. Bd.5, Gütersloh 2008

(Die wissenschaftlichen Namen der fünf Bücher Mose sind: Genesis (Gn), Exodus (Ex), Levitikus (Lv), Numeri (Nu), Deuteronomium (Dt).

Bild von Barak Broitman auf Pixabay

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