
Klaus-Rüdiger Mai, Der kurze Sommer der Freiheit. Wie aus der DDR eine Diktatur wurde, Freiburg 2023, 315 S.
In den vergangenen Jahren erschienen zu Recht im Blick auf das 70jährige Jubiläum verschiedene Studien zu Hans und Sophie Scholl, der Weißen Rose, jener Studenten im Widerstand gegen die NS-Diktatur. Viel weniger bekannt sind die Namen und Gruppen von Studenten, die wegen ihrer nicht ideologiekonformen Haltung gegenüber der (Universitäts-) Politik in der entstehenden DDR oder in ihren Anfangsjahren staatliche Willkür, Schauprozesse, jahrelange Haft bis hin zum Tod erleiden mussten. Wer kennt schon die Namen von Herbert Belter, Otto Gallus, Luise Langendorf u.v.a., die sich nach der erfahrenen NS-Diktatur freiheitlich-demokratische Strukturen nicht nur erhofften, sondern versuchten, zu praktizieren bis diese gewaltsam durch die kommunistisch-sozialistischen Organe, vielfach mit Hilfe von Denunzianten durch Organe der sowjetischen Besatzungsmacht beendet wurden. Bereits im September 1945 vertraute der wenig später mit fadenscheinigen Argumenten denunzierte, verhaftete, verurteilte und in der Haft umgekommene Theologiestudent Werner Ihmels seinem Tagebuch an: „Wir erleben heute in sechs Monaten die gleiche Entwicklung wie in den letzten zwölf Jahren. Stehen wir vor dem gleichen Ergebnis? – Die ersten Verhaftungen sind auch schon da.“
Klaus-Rüdiger Mai geht in seiner auf zahlreichen Archivalien beruhenden Studie der Geschichte nicht nur Leipziger Studenten nach, die „verhaftet, eingesperrt und ermordet wurden“, die „mindestens 91 Namen“ umfasst. (292) Der Verfasser legt in drei großen Abschnitten dar, wie die neuen (sozialistisch-kommunistischen) Machthaber ihre Macht aufbauten und durchsetzten.“Es soll ja alles nur demokratisch aussehen, aber die Macht in den Händen der Kommunisten bleiben“ wie der Student Gerhard Schulz beobachtet. (42) Ganz analog zu der Vorgabe Ulbrichts („Es muss alles demokratisch aussehen, aber wir müssen alles in der Hand haben“ (W.Leonhard, Die Revolution, 1990, S.406).
Mit brutaler Gewalt geht die SED gegen Andersdenkende vor, konstruiert sogenannte konterrevolutionäre Verschwörungen, bedient sich der sowjetischen Besatzungsmacht, die nach sowjetischem Recht viele der Studenten zu Lagerhaft und Todesstrafe verurteilt. Allein 923 deutsche Zivilisten wurden zwischen April 1950 bis Dezember 1953´in Moskau hingerichtet. (294) Demokratie ist ausschließlich zu verstehen als „Diktatur des Proletariats“. In diesem Zusammenhang wird, wie Mai verdeutlicht, die Autonomie der Universitäten durch Unterstellung unter die verschiedenen Ministerien aufgelöst. (114) Forschung und Lehre verschult und der SED-Ideologie untergeordnet, wobei die studentische Selbstverwaltung meist durch Manipulationen der FDJ unterstellt wird.
„Die Geschichte von Herbert Belter in Leipzig, von Arno Esch in Rostock, das Schicksal der Studenten der konstruierten „Belter Gruppe“, das Schicksal von Wolfgang Natonek und Werner Ihmels, von Luise Langendorf und Jutta Erbstößer“ sind keine Einzelschicksale. Die vom Verfasser dargestellten Schicksale stehen für Tausende ähnlicher, die belegen auf welche Weise die auf Unterdrückung, Repression, Kollektivismus und Konformismus beruhende Diktatur entstand, in der der Einzelne nur Eigentum der Staatsmacht ist. Klaus-Rüdiger Mai gibt all den, auch ungenannten Opfern, mit seiner Studie Gesicht und Stimme. Seine Forschung beruht auf Vorarbeiten von Historikern der „Stiftung Aufarbeitung“ und eigenem Archivstudiums, verständlicherweise fehlen hier die Hinweise auf Akten in russischen Archiven, die nur in einem kurzen Zeitfenster der Männerfreundschaft zwischen Boris Jelzin und Helmut Kohl zugänglich waren.
Besonders im Hinblick eines immer wieder aufkeimenden Geschichtsrevisionismus, der die Gewaltherrschaft des DDR-Sozialismus mit fragwüd3en Quellen verharmlost, verweist diese Studie auf die historisch ideologische Basis und Praxis, auf der sich das politische Leben und die Unfreiheit in der DDR bis zu ihrem Ende stützte. Die Herrschenden waren eben nicht einfach zu dumm, um einen Sozialismus zu verwirklichen, bereits in ihrer Gründungsidee wurden die Wurzeln einer menschenverachtenden Diktatur gelegt. Bemerkenswert ist zudem, dass die deutsche Justiz einmal mehr, wenn formal korrekt, auch diesen Part der deutschen Geschichte nicht entsprechend gewürdigt hat. Zwar werden die Anklagepunkte der Staatsanwaltschaft geteilt (Denunziation, Freiheitsberaubung), von einer Verhandlung vor dem Landgericht jedoch abgesehen und später gegen dem beschuldigten letzten Staatsratsvorsitzenden der DDR Manfred Gerlach wegen „Verhandlungsunfähigkeit“ eingestellt. Hier bieten sich Parallelen zum Umgang der Justiz mit NS-Verbrechern an. (50ff).
Ein Literatur- und Verzeichnis der Quellen und Archivalien nebst zahlreichen Anmerkungen beschließt diese Studie, an der kaum jemand, der sich mit der deutsch-deutschen Geschichte beschäftigt, vorbeikommt.
Dr. Hans-Joachim Ramm