Eine Predigt von Pastor Jörg Denke zum Volkstrauertag 2025
Gnade sei mit Euch und Frieden von Gott, unserem Vater, und von Christus Jesus, unserm Herrn und Heiland. Amen
Liebe Gemeinde!
Neulich bin ich mal wieder an dem Grab von Tante Hedwig vorbeigekommen. Anfang der Coronazeit habe ich sie dort zur letzten Ruhe gebracht. Tante Hedwig ist nicht mit mir verwandt. Das ganze Dorf nannte sie so. Und als ich sie das erste Mal im Pflegeheim besuchte, hat sie sich mir auch gleich so vorgestellt: „Sagen Sie man „Tante Hedwig“, Herr Pfarrer. Das machen se alle so.“ „Herr Pfarrer“ – nicht „Paster“, wie bei uns üblich.
Und mit rollender Stimme. Und ab und zu mit einem polnischen Ausdruck oder einer jiddischen Formulierung. In meinen Kindertagen sprachen viele Menschen so. Oder sie sprachen Ostpreußisch oder Pommernplatt. Heute sind das ausgestorbene Sprachen. Tante Hedwigs Wiege stand mitten in Polen. In einem winzig kleinen Dörfchen mit unaussprechlichen Namen. In den letzten 20 Jahren hätte sie Schwierigkeiten mit ihrer Geburtsurkunde gehabt, erzählte Tante Hedwig damals. Denn als sie 1921 geboren wurde, da war das Dörfchen Teil der polnischen Republik und hatte einen polnischen Namen. Nach 1939 war ihr Dörfchen deutsch besetzt und Generalgouvernement und alles wurde eingedeutscht. Auch der Dorfname.
Und ihre Freundin Sarah Kaminski musste sich umschreiben lassen: „Sarah“ wäre ein jüdischer Namen, hieß es. Und ein polnisches „Kaminski“ wäre für eine Deutsche unwürdig. Und bis zur Flucht wäre sie dann „Gerda Kammer“ gewesen. „Aber das Mensch auf Amt sagte: Du bist zweimal geboren. Enmal deutsch. Und einmal polnisch. Und das geht nicht. Ich nehm das Papier, das ich kann lesen, sagte dieses Mensch. Und das war das mit Hakenkreuz, nicht das mit Adler“. Und so steht in Tante Hedwigs Personalausweis „Geburtsort Moritzburg“. Und in ihrer Sterbeurkunde „Geburtsort Maurichinocow“. So hat sich der polnische Greif letztendlich doch gegen die Sonnenrune durchgesetzt.
„Aber versuch mal deitsche Beamten zu verklären“. Tante Hedwig erzählte gerne von den Kindertagen vom kleinen Bauernhof des Vaters. „Mit Pferd vor Pflug“ und „sooolche Kartoffeln und soooo hoch der Weizen“. Und wie sie als Kinder mithelfen mussten bei der Ernte. Glückliche unbeschwerte Kinderzeit. Und vor allem glücklich unbeschwerte Friedenszeit.
Es gibt in ihren Erzählungen ein Stadl mit Synagoge und jüdischen Nachbarn und eine deutsche evangelische Kirche im Nachbarort, in dem sie, Tante Hedwig, konfirmiert worden ist.
Und eine fette Gans
„Aber der Herr Pfarrer hat auch gepredigt polnisch, weil nicht alle Deitschen haben verstanden deitsch.“ Und eine fette Gans habe er bekommen, der Herr Pfarrer, „fier Konfirmandenunterricht“. An Sankt Martin. „War friher so iblich bei uns Evangelen“. Nur aus der Schulzeit erzählte sie ungern. „Erst gingen wir alle in deitsche Schule und der Herr Lehrer sprach deitsch. Und denn war sich Deitsch verboten und wir mussten sprechen polnisch. Und man hat uns nachgerufen „Swabbes“.
Und alle wurden abgeholt
Und denn war wieder deitsch und alle wurden abgeholt“ – die jüdischen Nachbarn, der polnische Lehrer, der evangelische Pastor, der sich kritisch über die Besatzungspolitik geäußert hatte. Die kommenden Jahre erlebt die Familie zwiespältig. Für die Polen sind sie „Schwabbes“ – Schwaben, das jiddische Schimpfwort für die Deutschen. Und als Nicht-Reichsdeutsche sind sie den Besatzern suspekt. Für Tante Hedwig heißt das: kein Landjahreinsatz – kein Bund deutscher Mädchen – kein Einsatz als Blitzmädchen im Krieg. Als Deutsche allerdings auch keine Zwangsverpflichtung „ins Reich“ wie ihre polnischen Freundinnen. „Einfach abgeholt in Nacht und Nebel. Haben geschrieben, dass nur Arbeit und nix zu essen. Nur dinne Briehe. Ist dann auch verhungert, die Arme“.
Sie selber wird auf dem Elternhof zwangsverpflichtet, bekommt Reisebeschränkungen, gerät aufgrund ihres jüdisch klingenden Nachnamens und ihrer jiddelnden Sprachfärbung immer wieder in die Verhaftungswellen der Besatzungsmacht. 1944 steht die SS vor der Tür: Das Dorf liegt nur ein paar Kilometer von Warschau entfernt. In der Nähe von Aufstand im Warschauer Ghetto kann die SS keine unsicheren Kandidaten gebrauchen. Hedwigs Familie soll in Lodz interniert werden. Tante Hedwig sagt nicht „Lodz“, sie sagt „Litzmannstadt“. Und sie sagt „umsiedeln“. Litzmannstadt ist bis 1944 Juden-Ghetto.
Ohne Skrupel und Bewusstsein
Dann wird es aufgelöst. Mindestens eine Viertel Millionen Menschen sind dort elendig verreckt oder wurden in andere Lager „umgesiedelt“. In der Sprachgebung der Nazis heißt das „umbringen“, „vergasen“, „ermorden“. Mit dieser Nazi-Sprache leben wir heute noch. Und sie feiert bei den Ewiggestrigen fröhlich Urständ: „deutschstämmig“ – „Volkszorn“ – „Lügenpresse“ – „Schwatzbude“ – „gesundes Volksempfinden“ – die Bezeichnung des politischen Gegners als Ungeziefer, Ratten, Schweine. Ja, sie sprechen wieder die Sprache ihrer Großeltern – und sie denken nicht nur so. Sie reden auch wieder so – ungeschminkt, öffentlich – ohne jede Skrupel.
Und ohne Bewusstsein von dem, was Menschen erlebt und erlitten haben. Mit jeweils zwei Koffern geht es zur nächsten Bahnstation. Doch die russische Front rückt immer näher. Der Zug landet dann auch nicht in Lodz, sondern in Stettin. Im Internierungslager Stettin wird die Familie dann von der Front überrollt. Nicht Tante Hedwig, sondern ihre etwas jüngere Schwester, wird die erste sein, die mir wirklich schonungslos aus dieser Zeit erzählt: Hunger, Kälte, Drangsalierungen durch die neue Besatzungsmacht, Massenvergewaltigungen, Verstümmelungen, Lynch-justiz, Massenselbstmorde.
Es ist nicht zu erzählen
Nemmersdorf ist Propaganda; Tante Hedwigs Schwester aber beschreibt ihr persönliches Nemmersdorf. Es ist nicht zu erzählen. In Demmin in Pommern werden innerhalb einer Woche 700 Menschen aus Angst vor dem, was sie erleben, Selbstmord begehen. Die meisten davon bleiben namenlos. 2 Millionen Frauen, so schätzt man, werden im Verlaufe des Krieges vergewaltigt, jede vierte davon mehrfach. Die Täter kommen aus allen Nationen.
Meine Tante, die ähnliches erlebt hat wie Tante Hedwig und ihre Schwester, wird aus dieser Zeit nur erzählen, sie sei „unter den Russen geraten“. Ich habe Jahre gebraucht, um das wirklich zu verstehen. Nämlich wortwörtlich.
Tante Hedwig und ihre Schwester beschließen nach diesen Erlebnissen, zusammenzubleiben und niemals zu heiraten. Männer werden in diesem Leben nicht mehr stattfinden. Das Trauma sitzt zu tief. Ein Leben lang. Der Rest ist schnell erzählt: die Polen werfen sie aus dem Land. Sie werden Richtung Westen abgeschoben, finden Unterkunft in einem kleinen Dithmarscher Dorf.
Tante Hedwig findet Arbeit – erst in der Landwirtschaft, später als Verkäuferin in einem Kaufhaus, erspart sich mit ihrer Schwester ein kleines Häuschen. Beide integrieren sich im Dorfleben, leben ruhig und friedlich rund um Haus und Garten, ziehen schließlich zusammen ins Pflegeheim. Hier ist Tante Hedwig dann ganz ruhig eingeschlafen, mit fast 100 Jahren, alt und lebenssatt. Und bis zum letzten Tag klar und hellwach.
Und nun komme ich gelegentlich an ihrem Grab vorbei und höre im Stillen ihre Stimme: „Sagen Sie man „Tante Hedwig“, Herr Pfarrer. Das machen se alle so.“
Ich habe im Laufe meines fast 40.jährigen Pfarrlebens viele Tante Hedwigs beerdigt. Und genauso viele Onkel Willis. Denn was ich nun sage, gilt auch für sie.
Was ich nun sage, gilt auch für sie
Ich habe im Laufe meines Pfarrlebens viele Tante Hedwigs beerdigt. Sie stammten aus Pommern oder Ostpreußen, aus Oberschlesien, dem Memelgebiet oder dem heutigen Polen. Sie stammten vom Bauernhof oder kamen aus einem Beamtenhaushalt. Sie waren in einer Fabrik beschäftigt gewesen oder in einem Lebensmittelgeschäft. Sie kamen aus dem Dorf Wintersfelde oder aus der Großstadt Danzig. Sie sprachen ostpreußisch, Pommernplatt, mit Dialekt oder betont hochdeutsch. Und viele sprachen auch Platt, die Sprache der neuen Heimat. Sie waren mit dem Treck übers Eis gekommen, mit Pferd und Wagen, mit der Eisenbahn oder 2000 Kilometer zu Fuß. Sie waren geflohen, vertrieben, gestrandet – oder einfach in die Heimat zurückgekehrt. Sie hatten sich integriert, eine neue Heimat gefunden, waren in ihrer neuen Heimat zu stärkeren Kulturträgern geworden als sie es in der alten Heimat je gewesen wären.
Ihr Leben war so unterschiedlich verlaufen, wie Leben nur unterschiedlich verlaufen kann. Ihnen gemeinsam war nur eines: sie hatten Krieg erlebt. Und dieser Krieg hatte sie geprägt – körperlich und seelisch, am ganzen Leib, an ganzer Seele Seele. Und dieser Krieg war erst dann zu Ende gegangen, als auch ihr Leben zu Ende gegangen war. Solange aber war dieser Krieg Teil von ihnen geblieben, die Verletzungen an Leib. Und die Verletzungen an der Seele, die Bombennächte und die grausigen Erlebnisse, die sie nachts immer wieder schweißgebadet aufwachen ließen, die großen und kleinen Ängste, die sie ein Leben lang begleitet haben.
Traumata
Immer einen Vorrat im Haus haben – immer einen gepackten Koffer – Ich verlasse mein Dorf nicht, ich musste schon einmal mein Dorf verlassen – sparen, sparen, sparen, bis hin zum Geiz.
Ich heirate nie.
Ich verschließe meine Traumata tief in mir drinnen und sage: „Alles ist wieder gut und normal“.
Ich schweige – die Zeit vor 1945 will ich/ habe ich vergessen.
Alles Erlebte ist nie passiert.
Alte Kameraden
Ich habe in meinem Pfarrleben die alten Kameraden erlebt, für die der Krieg noch lange nicht zu Ende war und die mit anderen alten Kameraden die alte Herrlichkeit immer wieder aufleben ließen. Und die dann anonyme Briefe und Morddrohungen schickten, wenn der Pastor am Volkstrauertag von Anne Frank und von vergewaltigten Frauen erzählte.
Ich war auf Weihnachtsfeiern, auf denen man von der alten Heimat träumte, in der doch ach so alles besser war. Und in die man dereinst zurückkehren würde.
Ich habe an Sterbebetten gesessen, wo Menschen nicht sterben konnten, weil Schuld quälte. Und sie sich diese Schuld nicht eingestehen konnten. Und so manches schlimme Erlebnis habe ich erst nach dem dritten Bier und dem fünften Korn erfahren, als der Alkohol die Zunge löste und sie endlich, endlich reden konnten, was so lange Herz und Gewissen bedrückt hatte.
Ich habe im Laufe meines nunmehr fast 40.jährigen Pfarrlebens viele Tante Hedwigs und viele Onkel Willis beerdigt. Und mit ihrem Tod, da ging nicht nur ein Leben zu Ende, sondern immer auch ein Stück erlebter Geschichte. Immer auch ein Stück persönlich erlebten Krieges. Und immer auch ein Stück persönlich erlebten Traumas.
Der Tod und das Verschwinden erlebter Geschichte
Und nicht selten befreite er dann auch vom Trauma des Erlebten, vom Trauma des Krieges, der Flucht, des erlebten und erlittenen Unrechts. Würde für jedes erlebte Trauma auf unserem Friedhof ein Licht leuchten, der Friedhof wäre auch nachts taghell.
Doch leider verschwindet mit dem Tod jedes Menschen auch ein Stück erlebter Geschichte. Das ist mir nie so deutlich geworden wie damals bei Tante Hedwig. Die kleine Dorfwelt mit jüdischem Stadl – der Herr Pfarrer und die Martinsgans – das Erleben von Krieg, Flucht und Neubeginn – Geschichte. Ja, selbst die Nachkriegszeit – Wiederaufbau – der Kalte Krieg – die Mauer quer durch Deutschland – längst Geschichte.
So wie auch ich als letzter Zeuge dieser Erzählungen bald Geschichte sein, wenn ich im nächsten Jahr in Pension gehe.
Auch die Nachkriegsgeneration, die Boomergeneration, sie wird langsam Geschichte. Und der fast 80.jährigen Nachkriegszeit droht ein neuer Krieg und eine neue Machtübernahme der Ewig-Gestrigen. Zeitenwende. Doch leider verschwindet mit dem Tod jedes Menschen auch ein Stück erlebter Geschichte. Und mit diesem Tod verschwindet gleichzeitig auch die Erinnerung an das, an das wir uns erinnern sollten: die Erfahrung von Krieg, Diktatur, Völkerhass, Rassenwahn, persönlichem und öffentlichem Leid.
Eine Mahnung taugt nichts, wenn sie keinen Platz in meinem Leben hat.
Ein „Nie wieder“ wird stumpf, wenn ich den Grund für dies „Nie wieder“ nicht am eigenen Leib verspürt habe. Was ich nicht selber erlebt habe, geht mich nicht mehr an. Und ich kann es ignorieren. Oder leugnen. Tun, als gäbe es das alles nicht. Oder behaupten, es wäre nicht mehr relevant – für mein persönliches Leben. Und schon gar nicht für die Gesellschaft.
Allerdings, wer sagt, das alles wäre Geschichte und ginge ihn nichts mehr an, der vergisst, dass die Erfahrung von Krieg, Diktatur, Völkerhass, Rassenwahn, Vergewaltigung alles anderes als vergangene Geschichte ist. Im Gegenteil, die Erfahrung ist hochaktuell. Und sie passiert heute.
Fremde Welt
Und die Leidtragenden und Traumatisierten leben genau neben uns. Nur dass sie nicht mehr Hedwig heißen. Oder Willi. Sondern Fatima, Achmed, Igor, Katharina, Wladimir oder Pauls. Die Welt, aus der sie geflohen sind, ist uns genauso fremd wie die Welt von Tante Hedwig und Onkel Willi. Und vielleicht ist uns sogar ihre Sprache und ihre Gewohnheiten so fremd wie bei diesen. Aber ihre Erfahrungen sind dieselben: Traumatische Erlebnisse, Bombennächte, Terrorregime, Ver-gewaltigung, Vertreibung, Flucht.
Und leider auch das, wovon Tante Hedwig dann auch erzählt hat: dass sie die Anderen waren, die Nicht-Willkommenen, die man am liebsten in Lager steckte, die Fremden, die hoffentlich bald wieder dorthin abhauten, woher sie gekommen waren. Die Eingliederung der sogenannten „Flüchtlinge“ ist kein Ruhmesblatt deutscher Geschichte, schon damals nicht.
Bunt und international
Wir alle sind Gottes Ebenbild. Wir alle. Vielleicht sollten wir langsam begreifen lernen, dass unsere Gesellschaft längst bunt und international ist. Und vielleicht sollten wir lernen, damit zu leben, statt über Stadtbilder und Töchter herum zu philosophieren.
Frieden bewahren. Trotz alledem.
Tante Hedwig ist tot. Sie und ihr Leben ist Geschichte. Nur noch Erinnerung eines alten Mannes. Aber Krieg und Terror sind geblieben. Und sie fordern ihre Opfer. Auch heute noch. Und dagegen müssen wir etwas tun. Und den Frieden bewahren. Trotz alledem.
Amen
Beitragsfoto von Danie Franco auf Unsplash